Die Karriere des ´ANTI´

Die Antiritualismus-Thesen Mary Douglas im Spiegel V. Turners, W.E. Mühlmanns und N. Luhmanns

 

Wie kompliziert doch der Umgang miteinander wäre, gäbe es nicht die vielen kleinen Gepflogenheiten. Kein Gespräch ohne ein einleitendes ´hallo´,  keine Verkehrssicherheit ohne ´Rechts-vor-Links´,  kein Vertrag ohne Unterschrift:  Rituale kanalisieren das gesellschaftliche Zusammensein und vereinfachen die Kommunikation, indem sie aus der schier unendlichen Fülle an Verhaltensmöglichkeiten bestimmte Muster kulturell fixiert halten. Je größer die Symboldichte der Rituale, desto  reibungsloser das soziale Miteinander. - Zwischenmenschlicher Zusammenhalt läßt sich am Grad der gesellschaftlich wirkenden symbolischen und rituellen Dichte ermessen.


Religiös geprägte Überzeugung und ein verbindliches Weltbild freilich sind unter modernen Bedingungen so antiquiert wie die Großfamilie, allzu stringentes Ritualverhalten geriet out of order: Den sonst so fortschrittlichen Westen kennzeichnet ein ´Verlust gemeinsamer Symbole´. Von dieser Beobachtung ausgehend verglich Mary Douglas in ihrer Studie ´Natural Symbols´ Symbolsysteme verschiedener Kulturen. Kulturübergreifende Mechanismen des Ritualverhaltens offenlegend, gelangte sie vor nun bereits gut 25 Jahren zu grundlegenden Einsichten über die Zusammenhänge von Sozialstruktur und Symbolsystem, von Ritualtreue und Tabubruch.


Einerseits stieß sie auf interkulturelle Übereinstimmungen im ´Auf und Ab der Ritualhörigkeit´, andererseits räumte sie mit dem Vorurteil auf, ausschließlich westliche Zivilisationen seien wenig magiegläubig und schätzten Ritualismus gering -  Pygmäenvölker Afrikas leben ebenfalls sozial voneinander unabhängig und ´funktionieren´ rituell ´ungebunden´. Während Naturvölker beispielsweise des Nomadentums wegen nicht-ritualistische ´Distanz´ entwickelten, hat der Geborgenheit im rituellen Kosmos aber modern die Einsicht Platz gemacht, Rituale wirkten als ein ´Arsenal von Kontrollinstrumenten´ (Douglas 152) und damit als Zwang. Die Ritualarmut  beruht auf geschichtlich bedingtem Verdruß: ´Ritual ist ein anstößiges Wort geworden´ (11).


Individualisierung und Innerlichkeit wird höher bewertet als gesellschaftlicher Konsens und die elaborierte, auf persönlichen Entscheidungen beruhende Selbstverantwortung überbietet den Gleichklang der kulturellen Übereinkunft. ´Unpersönliche Regeln´  geben zwar Empfehlungen, an die man sich doch bitte halten möge, Geschäftsgepflogenheiten, Anstandsformen und Gesetze regeln das Nötigste, doch jeder darf und muß weitgehend nach seiner eigenen Fasson erfolgreich sein (vgl. 187ff). Zusätzlich geschürt wird die Ritualmüdigkeit durch den Antiritualismus gesellschaftlicher Subgruppen und Bewegungen, die sich das ´Anti´ auf  die Fahnen schreiben.


Zurecht sieht Douglas als Gefahr für moderne ´rituelle Bettler´ (37), den Anschluß an die Gesellschaft zu verlieren. Ebenso gefährlich aber ist die Antihaltung umgekehrt auch für die Gesellschaft. Sie kann ohne verbindende Rituale nicht funktionieren, denn Rituale sind das kommunikative Öl im Gesellschaftsgetriebe.


Geradezu tröstend für den kulturellen Zusammenhalt freilich ist, daß sich ein dem antiritualistischen Feldzug folgender anarchistischer Zustand ohnehin nicht lange halten kann. Er könnte sich - im Ritualvakuum - handlungsaktiv und kommunikativ auf Dauer nicht einmal sich selbst vermitteln: Dem antiritualistischen, gesellschaftlichen ´Abstieg´ folgt, da mag das ´Anti´ noch so groß sein, zwangsläufig die Formierung eines neuen rituellen Systems. Antiritualisten mobilisieren als ´Erweckungsbewegungen´, als Welt(bild)verbesserer sektiererisch, ideologisch, oder milleniaristisch neue Werte und Rituale - mit dem Ziel, die gesamte Gesellschaft dafür begeistern zu können.

 

Daß bereits geringe Umwertungen ritueller Relevanzen auf Kosten der Tradition gehen, ist die Pointe in der Analyse Douglas. Erweckungsbewegungen bewirken einen Verlust der tradierten Symbolkraft: Einst unhinterfragte Rituale werden historisch und können keine Wirkung mehr leisten, sobald sie ´Kratzer´ abbekamen, beziehungsweise umgedeutet und ´modernisiert´  wurden. Douglas zeigt, wie die rituelle Bindung nach vielmaligem Umformulieren der Symbolsysteme zu unverbindlicher Unübersichtlichkeit zersplittern mußte. Das geschichtlich sich wiederholende ´Ausschlagen des rituellen-antiritualistischen Pendels´ höhlte den symbolischen Sinn der Rituale aus (16ff).


Wie aber, so ist zu fragen, soll sich gesellschaftlicher Wandel vollziehen, wenn Wandel den Verfall des rituellen Kosmos nach sich zieht? Und: wie soll eine Kultur auf neue Situationen reagieren, wenn sie sich partout auf die gültigen Regeln und Rituale beruft, ohne sie qua anti in Frage zu stellen?  Viktor Turner hat sich dieser Fragen nahezu zeitgleich zu Douglas angenommen, die Funktion des ´Anti´ aber ganz anders analysiert. In ´The Ritual´ - Ergebnis seiner Feldforschung bei den Ndembu Sambias -,  bemühte er sich, die ´blinden Flecke´ zwischen Ritualtreue und Antihaltung analytisch einzuholen.


Turner gesteht dem Antiritualismus eine wesentliche gesellschaftliche Bedeutung zu. Er nennt ihn in Abgrenzung sowohl von ´Community´ als auch von Gesellschaft Communitas. Communitas sei ein Pendant der gesellschaftlich normierten Rituale selbst, das ´Anti´ der notwendige Mechansimus, ein institutionalisiertes Symbol- und Sozialsystem dialektisch zu bestätigen beziehungweise auf neue Bedingungen hin zu prüfen. Während Douglas belegt, daß Antiritualisten und Abweichler, beispielsweise Hexen, in Naturvölkern (beispielsweise den Navaho-Indianern) oftmals vom Gruppenverband ausgestoßen werden, um eine Aufspaltung der Gruppe zu vermeiden (156),  belegt Turner, daß Außenseiter durch ihre Statuslosigkeit gerade kritisieren und dadurch Umorientierungen im rituellen System ermöglichen können (115). Was Douglas bedrohlich anmutet, ist ihm ein selbstverständliches ´soziales Drama´ (2o1): Mag also gelten, daß Gesellschaft ohne Rituale nicht existenzfähig ist, ohne zwischenzeitliche Ritualauflösung ist sie es ebensowenig - und sei es nur als kurzfristige Tabuaufhebung während des Karnevals oder während Übergangsriten.


Auch der ´anarchistische´ Ausnahmezustand zwischen Ritualsturz und Erweckung ist Turner nicht Zeichen gesellschaftlichen Niedergangs, sondern notwendiger ´Dialog der Natur mit der Struktur´ - Natur verstanden als Erfahrungsdimension jenseits der gültigen Normen (136). Wenn Turner erklärt, Außenseiter stünden für die Humanität, die im System nicht verwirklicht sei (1o9), siedelt er das Optimum gesellschaftlichen Werte sogar außerhalb des Status Quo an. Hinter den ´Natural Symbols´, im ´Off´ gewissermaßen lauern erst zu aktualisierende Möglichkeiten gesellschaftlicher Artikulation: Communitas ist ´das noch nicht in der Sozialstruktur fixierte Entwicklungspotential´ (125). Sozialstruktur und Symbolsystem sind folglich nur ein Ordnungsmodell, Communitas erst umreißt, wie Turner sagt, den ´ganzen Menschen´ (125). Er ist ´größer´ als seine gesellschaftliche Realität.


Indem Turner das Augenmerk von den Phänomenen gesellschaftlicher Stabilität auf die ihrer Variabilität lenkte, ebnete er den Weg hin zur Systemtheorie: Das ´soziale Drama` Turners ist für Niklas Luhmann ´dynamische Stabilität´ (79). Rituale hält Luhmann zwar für äußerst praktisch, da sie dank  eines ´Übersetzens externer Ungewißheiten in einen internen Schematimus´(253) nicht angezweifelt werden müssen. Doch erheben  sie geringe Ansprüche an die Vielfalt der gesellschaftlichen Realität (ebda) und deren stets neuen Situationen. Sie bewirken eine ´Ausschaltung reflexiver Kommunikation´ (613), das Ausschalten des Zweifelns und des Anti. Wie Turner Communitas, sind für Luhmann aber ´Widersprüche für das gesellschaftliche Immunsystem unabdingbar´ (526). Für ihn ´besteht ein hinreichend stabiles System aus instabilen Elementen´, die ´auf ständigen Verfall angewiesen´ sind (78). Rituale müssen durch ihren Gebrauch über die Herausforderung durch das Anti je erst bestätigt werden: ´Ohne Noise kein System´ (166). Antiritualismus und Communitas sind folglich keine ´Zerstörer´ des Systems, sondern seine Bedingung. Wie Turner begreift auch Luhmann das Ritual in Bezug zu dem, was noch möglich und an ihm zu optimieren wäre - auf die ´Gefahr´ hin, daß Tradition sich wandelt oder abstirbt.


Indem Douglas Wandel über die rituell-antiritualistische Pendelbewegung als Traditionsverlust aufrechnet, übergeht  sie zwangsläufig die Selbstverständlichkeit gesellschaftlicher Entwicklung. So leidenschaftlich Douglas zwar den Antiritualisten nachspürt,  einen der prominentesten antiritualistischen Fälle überhaupt, den Luthers wider die katholische Kirche, behandelt sie leider nur am Rande. Gerade er aber ist ein Beispiel erfolgreichen Wandels trotz und wegen Ritualabbaus. Stattdessen konzentriert sie sich auf die sogenannten ´Sumpfiren´, eine Religionsgemeinschaft Englands, die trotz der Kritik der katholischen Kirche an der Freitagsabstinenz festhält: Douglas beklagt ein mangelndes Ritualbewußtsein der Katholiken, denn jedes ´anti´ ist ihr ein Generalangriff auf den ´notwenigen´ rituellen Konsens. Es dürfe nichts geopfert werden, da sozialer und kommunikativer Abstieg drohe.


Dabei hatte W. E. Mühlmann bereits knapp zehn Jahre vor ihrer Studie die ritual- immanente Dialektik illustriert:  Einerseits sind ihm Kirchen ´Versicherungsanstalten gegen zuviel Religion´ (1961: 373) - im Sinne der Katholischen Kirche wider die Freitagsabstinenz der ´Sumpfiren´. Andererseits aber lebt Religion gerade von der ´dynamischen Lebendigkeit immer neuen Aufbruchs´ (367). Wie Turner und Luhmann betrachtet  auch er Kultur weder als vollendet noch als stabil und Tradition nicht als statisch, so sehr sie,  im Rückblick verklärt, auch gerne den Anschein geben mag.


Obwohl auch  Mühlmann zu der Einsicht kommt, daß antiritualistische Weltverbesserer oft der Tendenz erliegen, die eigene unglückliche Lage heilig zu sprechen und durch generelle Weltablehnung irreal an den angegangenen Problemen vorbeizuhandeln, ließ sich Douglas nicht von ihm inspirieren. Während Antiritualismus, wie Douglas ihn prägt, Ritualabbau auf Kosten des Common Sense bedeutet, zeigen Mühlmanns zum Teil politisch motivierte Fälle des Antiritualismus - beispielsweise der Mau Mau-Aufstand der Kikuyu in Kenia -, daß die Community weder ohne Grund noch ohne Ziel angegriffen wird: Das Anti nutzt die Tastatur der gültigen Symbolstruktur, um Rituale konkret zu verändern, Communitas baut Rituale automatisch wieder auf - ohne Rituale funktioniert Gesellschaft tatsächlich nicht. Der Mühlmann´sche  Antiritualismus also denkt die für Douglas erst ´nachziehende´ Erweckungsbewegung bereits mit. Antiritualismus und Erweckung folgen keiner Pendelbewegung , sondern sind miteinander wirkende Kräfte des Wandels.


Getrennt zu halten sind folglich nicht die Pole von Anti und Erweckung, vielmehr antiritualistisches Handeln von den Mechanismen innerhalb der Ritualdynamik: Es ist zweierlei, von Communitas als ´der Außenseiter sagt´ oder als ´die Rolle des Außenseiters bedeutet´ zu sprechen. Das Anti des Subjekts ist zu trennen vom Anti innerhalb der Ritualdialektik. Turner hat diese Trennung zwar so wenig klar genug vollzogen wie jene zwischen Communitas und den in Lebenszyklen auftretenden Übergangsriten - beispielsweise der Initiation. Douglas aber gelangte einerseits durch die Trennung in Pendelbewegungen, andererseits durch die Gleichsetzung von Ritualtreue und Symbolstruktur  zur Verwechlung von Antiritualismus mit gesellschaftlichem Verfall.


 Gesellschaft ist ihr eine geschlossene Veranstaltung, deren Wandel vom Status Quo ausgehen müsse. Sie rät den ´Systemkritikern´, ´sich auf die verachteten Formalitäten einzulassen, statt die keimfreien Mysterien der reinen Verneinung zu verehren´ (214). Diese Reaktion ist freilich radikaler als jeder Antiritualismus, da das Anti eliminiert werden soll. Am Ende ihrer Studie räumt Douglas immerhin ein, ´nutzbringender als ein rigider Antiritualismus wäre zweifellos die Möglichkeit, mit flexibleren institutionellen Formen zu experimentieren´ (213).


Flexibilität aber thematisieren Turner und Luhmann. Nicht schon das Anti bedeutet Luhmann Konflikt, vielmehr der verpaßte ´Nichtvollzug einer erforderlichen Anpassung´ (479): die Ignoranz antiritualistischer Tendenzen hat verhehrendere Folgen für das Ritualsystem als die ´reine Verneinung´. Da Antiritualismus in den Augen Mary Douglas Angriff auf die gesellschaftliche Konformität ist, tut sich der Verdacht auf, sie agiere weiniger in wissenschaftlich neutralem Interesse denn in einer Art politischer Notwehr. Eingangs ihrer Studie beklagt sie den Verfall der Werte, am Ende holt sie - kurz nach 1968 - aus gegen aufmüpfige Studenten.


Für Luhmann und die neurere Soziologie ist gesellschaftliche Dynamik weit wesentlicher als der Status Quo, da ´kein System genug Komplexität hat, um auf alles, was vorkommt, systematisch zu reagieren´ (Luhmann, 251). Indem dagegen Douglas die rituelle Stabilität zum Nonplusultra verallgemeinert, gerät ihr der kulturelle Sättigungsgrad zur Bedingung der analytischen Beobachtungen. Anstatt der gesellschaftlichen Vitalität Rechnung zu tragen, versteift sie sich auf eine reißbrettartige Gesellschaftsskizze, in der rituelle Standfestigkeit imaginäres Gesellschaftsziel ist. Zwar lassen sich in das von ihr erarbeitete ´Klassifikationsgitter´ gesellschaftliche Phänomene einordnen und Ritualdifferenzen übersichtlich ablesen, doch weder in ihrer Wechselwirkung noch in ihrem Werdegang erklären: Douglas beschreibt weniger Gesellschaft, denn ein Gesellschaftsmodell in vitro.


Da sich vor allem moderne Gesellschaften durch einen extrem hohen Grad an Komplexität und Vitalität auszeichnen, Ritualdichte und gesellschaftliche Dynamik in unterschiedlichen Kulturen aber ganz unterschiedliche Präferenz haben können, sind Vergleiche der westlichen Gesellschaften mit übersichtlich und einfach strukturierten Kulturen mit Vorsicht zu unternehmen. Ohne Konflikt aber wäre das Dasein überall nicht nur langweilig, sondern dem Verfall, der Entropie überlassen.


Matthias Groll

                                                               

Literatur: 

 

Douglas, Mary, 197o, Natural Symbols. Explorations in Cosmology; hier deutsch: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, 1981

Luhmann, Niklas, 1984 (hier 1988), Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie

Mühlmann, W. E., 1961, Chiliasmus und Nativismus

Turner, Viktor , The Ritual, 1969; hier deutsch: 1989, Das Ritual - Struktur und Anti-Struktur


erschienen als Sonderdruck in: Sociologus - Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie, 1996, Berlin