Analyse

 

Der Kurzfilm - ein Überblick

Stile, Erzählweise, Merkmale und Tendenzen

 

 

Kennste den: Ein Pärchen wird bei der Wohnungsbesichtigung beinahe vom Vermieter zermetzelt, doch nimmt es die Wohnung dennoch, weil sie so billig ist. Oder den um die Auseinandersetzung einer Familie über einen streunenden Hund, der ein Mensch ist? Oder den über den Metzger, der sich den Finger abhackt und ihn, zum Arzt rennend, in den Mund steckt, anstatt ihn zu kühlen? Kurzfilme bringen originelles wie ernstes auf den Punkt und thematisieren essentielle und extreme Aspekte aus allen Lebenslagen.

Der Kurzfilm ist ein PS-starkes Genre. Er steuert volle Kraft voraus und zielgenau auf den Plot: In Minuten, ja in Sekunden bauen sich Geschichten auf, die außergewöhnlicher kaum sein können. Beim Abspann sitzen wir dann da und merken: Das hat gesessen! Die Geschichten kommen als Überraschungsangriff und sie gleichen jenen einschneidenden, kurzen und abrupten Zwischenfällen des Alltags, die lange in Erinnerung bleiben.

Kurzfilme rauben uns nicht die Zeit der z.T. langatmig langen sogenannten Langspielfilme. Die Kurzen sind die Vierzeiler unter den cineastischen Gedichten, sie sind pointiert, frech und von einer ganz eigenen Dynamik. Die Würze der Kürze knallt. Der Langfilm fährt Autobahn, der Kurzfilm dagegen macht des den Schumachers gleich - er ist noch schneller - und kommt früher an!

Kurzweil freilich soll nicht heißen, daß die Stories nur rasen - auch Kurzfilme brauchen Entfaltungszeit. Sie sind auch nicht zwingend plot-abhängig, sondern funktionieren ebenso im ´Minimalismus des Erzählens´. - Das Feld ist weit: Hinsichtlich der vielfältigen Gattungsarten wie Animation, Spielfilm, Dokumentation, Experimentalfilm, Videokunst, Trash etc. ´fährt´ der Kurze zwischen Highway und Rennbahn auch und vor allem via Landstraße all die verborgenen, schönen, spannenden und skurrilen Winkel des Wirklichen ab. Er kann es unverkrampfter tun als seine Schwester vom Langfilm, denn er operiert zeit- und finanzsparender.

Und dies tut er seit jeher. Was der planetarischen Ursuppe der Einzeller war, war dem Kino der Short. Er ist die kreative Urzelle des Bewegten Bildes: Die ersten Filme der Menschheitsgeschichte faszinierten in Kürze. Die Filme wuchsen dann beliebig in die Länge, doch noch heute gilt das Kurze als das zentrale Medium sowohl des Experimentierens, Pointierens und Phantasierens, als auch des Transfers gezielter Messages: Werbung ist ein extremes Beispiel von Kurzfilm, Videoclips bedienen sich der Kurzfilmstringenz, doch auch Flash, ein mittlerweile ganz eigenes Animations-Genre, kommt den Shortstories auf bisweilen witzige Weise entgegen. Werbespots und Videoclips sind freilich Sonderformen und haben mit dem außergewöhnlichen Status des Formats Kurzfilm nichts zu tun - der Kurzfilm transportiert nicht Verführung, sondern Inhalt.

 

Die Dichte der Kürze

 

Sieht man auf Festivals oder in Programmen ein paar der Kurzen am Stück: die Formate, Ästhetiken, Dynamiken und Inhalte der einzelnen Werke geraten in eine ganz neue, anspruchsvolle Dramaturgie. Ein Unterschied zum Langfilm ist, daß der Zuschauer sowohl bezüglich eines Einzelfilms als auch eines Programms in der Regel nicht weiß, was kommt. Er ist unbedarft, hat selten Rezensionen gelesen und setzt sich dem Kommenden als Wagnis aus. Die Lust auf unbekannte Überraschungen bedarf der Offenheit der Zuschauer. Kurzfilmfreunde sind denn auch in der Regel kinoerfahren, konfrontationsbegabt und offen für ästhetisch ´schräge´ und kulturell fremdartige Filme (vgl. Kothenschulte 2001, 18).  Man will sich unterhalten, doch ist bereit, Extremes zu erfahren. “Diese Neugier des Publikums”, so Daniel Kothenschulte, ”ist kostbar. Nirgendwo sonst geht man noch aus einem Vergnügen an der Vielfalt der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten ins Kino” (ebd.).

So breit die Palette des Ausdrucks ist, Grundsätzliches läßt sich über den Kurzfilm durchaus sagen. Allein die Kürze, das ´weniger ist mehr´ ist gattungsprägend. Da er in wenigen Minuten alles zu erreichen hat, konzentriert er Dichte auf engstem Raum, eine Dichte, die mit Minuten, ja mit Sekunden spielt und deren Komplexität einen Aufmerksamkeitsspiegel erfordert, den man oft nicht allzu lange durchhält. ´Das Grundgesetz ist weitgetriebene Reduktion´ (Heinrichs 1998, 54).

Der Kurzfilm spielt mit den Erfahrungsgrenzen von Zeit und Erzählung, und mit deren immanenten Komplexität. Die Zeitschiene ist an die formale Struktur des Erzählens gekoppelt und bewirkt eine Art semiotischer Rückkoppelung, also eine Verbindung der Erzählung mit der strukturellen Knappheit. Ohne Ausschweifung, ohne Ablenkung sind wir während des Erzählens stets in Zielnähe.

Es zählt die Tatsache, daß ´die Handlung ein Thema trägt, das es zu entschlüsseln und zu interpretieren gilt. Dies macht den Kurzfilm interessanter, als der Versuch, einen ausgeklügelten Handlungsablauf zu entwickeln´ (vgl. Heinrich, 121). Charaktere können und müssen im Kurzfilm weit weniger detailgenau sein, vielmehr genügt die grobe Skizzierung. Statt des ausführlichen Erzählens dominiert das hinter der Geschichte stehende Thema. Das Übergreifende der Erzählung ist die magische Konstante - ´der Zuschauer bleibt ehr mit dem Gefühl für das Thema und nicht für die Geschichte zurück´ (vgl. ebd. 120).

Und Kurzfilme sind überaus mutig im Thema. Es gibt Auseinandersetzungen mit Holocaust, mit sexuellem Mißbrauch, Angst und Horror, die heftiger kaum sagbar sind. Und es gibt Erzählungen über Liebe und Sehnsucht,  über Schmerz und Vollkommenheit, die uns rührend hinwegraffen. Der Kurzfilm korrespondiert mit dem ´Vermischten´ der Tageszeitung. Er setzt die Unglaublichkeiten des Alltags um, thematisiert den ganz normalen Wahn der Existenz und seine möglichen Absonderlichkeiten. 

Katrin Heinrich hat in ihrer Analyse ´Der Kurzfilm - Geschichte, Gattungen, Narrativik´ (1998) dargelegt, daß und wie die Komplexität der Narrationsstruktur des Kurzfilms ´die intellektuelle und imaginative Mitarbeit des Zuschauers stimuliert´ (56): “Während der Langfilm den Zuschauer im Verlauf der Rezeption mit einer ausführlichen Geschichte zufriedenstellt, ist der Kurzfilm Anregung für den Zuschauer, sich mit dem Thema auch noch nach dem Film auseinanderzusetzen” (ebd. 118). Dies ist zweifelsohne auch beim Langfilm möglich, die Überrumpelung in Kürze aber zwingt dazu, erstens die Geschichte rasch zu verarbeiten und zweitens auch noch das Thema zu bewältigen. Die filmische Prägnanz und Komplexität geht von einer ´Ausführlichkeit durch Nichtdarstellung´ aus, die durch ´individuelle Ergänzung´ zu entschlüsseln ist (88). Das Thema ist in der Regel ´nur´ der angedeutete Überbau, das Darüberhinaus des Erzählten, doch damit das Wesentliche.

Der Schock also, der der Kurzfilm bisweilen hinterläßt, ist nicht nur die Geschichte selbst, sondern die dahinterstehende ´Tiefendimension´, all die auf Allgemeingültigkeit hin vereinfachbaren Grundsätzlichkeiten, auf die hin zu schlußfolgern ist. - “You can built a story around a core of truth” (Edmond Levy in: ebd., 121). Die Wahrheit selbst muß dabei nicht namentlich genannt sein. Heinrichs warnt die Kurzfilmmacher ganz allgemein: Nichts dürfe allzu ausführlich ´angedeutet´ werden, damit dem Zuschauer nicht der Antrieb zur Eigeninterpretation fehlt (vgl. 118). Das Kurze kommt damit dem Orgasmus gleich, dem das Vor und Danach einerlei ist. Der Kurzfilm würdigt das Vor und Danach nicht in der Erzählung selbst, sondern hat es mitzukommunizieren, es also in die Figuren und Plots zu integrieren. Dies macht das Medium komplex und spritzig.

Visuelle und narrative Orgien freilich können auch eine Verwirrung bewirken, die vom Zuschauer kaum entknotbar ist. Heinrich meint, ´die Unmöglichkeit, einen Kurzfilm beim ersten Mal zu verstehen, ist ein Qualitätsmerkmal (vgl. 119). Wenn aber der ´Orgasmus´ nur seitens des Films vollzogen wird und der Zuschauer Viagra-Nachschub braucht, kann die Schlacht um die narrative Kompetenz noch nicht gewonnen sein. Zuschauer haben nur selten Gelegenheit, einen Film ein zweites Mal zu sehen. Es gibt komplexe Kurzfilme, die nicht verständlich sind, da es nichts zu verstehen gibt, die aber ein ästhetischer Genuß sind, der einer Erklärung nicht bedarf. Es gibt komplexe Kurzfilme, deren Story auf Unverständlichkeit hin fehlkonzipiert ist. Und es gibt solche, die, komplex anspruchsvoll, darauf abzielen, ein zweites Mal gesehen werden zu wollen. Vor allem die letzte Gruppe aber richtet sich nicht an ein Massenpublikum.

 

Kurz versus lang

 

Der ausgeklügelte Handlungsablauf, wie wir ihn vom Langfilm kennen, zwingt nicht im gleichen Maß zur Anteilnahme wie bei der Kurzkunst, denn beim Kurzfilm hat der Betrachter Sinn-Dichte und nicht Inhaltsansammlungen zu rezipieren - sie bedürfen Zeit, die der Kurzfilm nicht hat (vgl. Heinrich 154). Ein Beispiel: In ´Schindlers Liste´ wird der Zuschauer in reichlich Überlänge mit Geschichte konfrontiert. Viel des möglich Vergangenen wird gezeigt, der Zuschauer ist - typisch Spielfilm - simulatorisch und semiauthentisch ´dabei´. Er erlebt mit den Protagonisten all die Schrecken des Holocaust, er schwitzt und heult. Aber dann, wenn der Film vorbei ist, ist der Zuschauer auch am Ende, weil er gewissermaßen mit einigen der Protagonisten emotional ´gestorben´ ist. Er hat ja stundenlang teilgenommen. Will sagen: Er hat die Geschichte des Films und das Thema durchlitten, ohne das Thema weiter emotionalisieren zu müssen. Zwar wirkt der Schock auch bei Schindlers Liste nach und es darf diskutiert werden, der Film ist dennoch ein Beispiel der sinnlichen Volldröhnung. Man wird narrativ aufgebläht und ist am Ende froh, Film und ´Geschichte´ überstanden zu haben. Und: Man glaubt guten Gewissens, nun das Thema abgearbeitet zu haben, weil man es ja so semiauthentisch und in Überlänge durchlitten hat.

Der Kurzfilm geht anders vor: Er versucht nicht das Ganze der narrativen Facetten und die Tiefen der Charaktere und Dramaturgien darzustellen, sondern zwingt den Zuschauer, die Inhalte ´mit eigenen Interpretationen und Gedanken zu füllen´ (57). Der Zuschauer hat weit mehr als beim Langfilm ´eine seinem eigenen Erfahrungshorizont entsprechende Tiefenstruktur oder Verständnisversion herzustellen´ (ebd.). Der Kurzfilm bewirkt ein ´weitaus stärkeres Involvement in die Geschichte, und einen weitaus subjektiveren Auseinandersetzungsgrad als der Langfilm´ (57f). Das Komplexe des Themas und die Intensität der Geschichte fordern den Betrachter in einer Weise heraus, die ihn mit sich selbst auseinandersetzen läßt. ´Was war das denn?´ fragt er sich nach dem Showdown irritiert, ´wie soll ich das einorientieren, verarbeiten und verkraften´? Schon die Tatsache, daß der Film stets in wenigen Minuten vorbei sein wird, schlägt den Zuschauer bald wieder auf sich selbst zurück. Er bekommt einen thematischen Rundumschlag, einen Magenschwinger oder einen emotionalen Kickdrauf. Den Rest hat er selbst - oftmals auch narrativ! - zu vollenden. Der Film also ´endet´ erst im Zuschauer.

Aufgrund der Kürze der Kurzen müssen die Verwicklungen äußerst intensiv sein. Sie dürfen vom Zuschauer nicht allzu lange verfolgt werden (vgl. 75) - ein Kurzfilm kommt in der Regel ohne Einführung aus. Bietet der Langfilm viel Individualität in voller Erzählbreite, so setzt der Kurzfilm die Protagonisten ohne Individualisierung in spezifische Situationen, die ´zum Symbol für ´Jedermann´ werden (87). Dies Allgemeine ist ein Stimulus, der zur aktiven Ergänzung anregt (67). Fragt also der Langfilm ´Was noch?´, so fragt der Kurzfilm ´Was überhaupt?´ (133). Der Kurze bleibt durch das thematische ´Symbol für Jedermann´ im Bereich des Essentiellen und Übergreifenden.

 

Zwischen kurz und kürzer

 

Allzu oft aber “reduziert sich die Arbeit am Kurzfilm auf das Erstellen filmischer Visitenkarten, als Referenz für Sendeanstalten und Produzenten” (Löser 13). Dies mag legitim und erfreulich sein, man sieht den Werken, die überdurchschnittlich oft aus München oder Frankreich (der ´arte´-Sog) kommen, die Gewolltheit jedoch an. Frankreich produziert gerne brav und mit Liebesaspekt und München wartet gerne mit Protzgeschichten auf.

Auffallend ist auch, daß ´bei manchen Spielfilmen zwar das Geld für einen Langfilm da war, die Ideen jedoch nur für einen Kurzfilm reichten´ (vgl. Wolfgang Luley, 2001, 52). Umgekehrt verliert sich somancher Kurzfilm in zu großer Spannbreite seiner Charaktere und in zu ausführlichem Erzählen. Er wirkt dann wie der Teil eines Langfilms. Das Motto ´zuviel ist nicht genug´ schadet dem Kurzfilm generell: Es gibt ´Redefilme´, Kurzfilme, in denen sich die Protagonisten Inhaltlichkeiten sagen, ohne dadurch die Geschichte weiterzubringen. Es gibt ´Gehfilme´, in denen die Kamera den Schauspielern ohne Aussagewert allzu lange nachläuft. Es gibt ´Denkfilme´, in denen der Zuschauer meinst durch Wort, aber auch durch Schriftbilder der Political Correctnes eines ´so hast Du das richtig zu verstehen´ unterworfen wird, ohne daß die Filmsprache selbst dies vermittelt. Es gibt ´Beobachterfilme´, in denen der Zuschauer zur Freiheit verdammt ist, herauszufinden, was ´es soll´, dabei aber alleine gelassen wird. Es gibt ´Kulissenfilme´, in denen die Ausstattung die Story plattmacht. Es gibt Waffenfilme, in denen der Konflikt durch vordergründige Gewalt, aber weder themengerecht noch ernst ausgetragen wird. Insgesamt gilt: Zuviel des Gutgemeinten kann das Thema und das Essentielle nur selten näherbringen. Wenn zwar die Story da ist, doch eine übergeordnete Logik abgeht, weiß man nicht, was Absicht und Antrieb des Werkes ist.

Und die Länge des Kurzfilms? Hier scheiden sich die Geister. Schon der Langfilm ist nicht eindeutig festgelegt. Er hat zwar die Sollgrenze von 90 Minuten, doch gibt es ihn kürzer und in Überlänge. Die 90 Minuten scheinen eine Art Fernseh- und Kinoprogrammierungsempfehlung zu sein, zugleich aber ist sie auch eine Grenze der Wahrnehmungsnormalität. Was drüber hinausgeht, wird bisweilen Wagnerfatalität vorgeworfen und droht an die Grenzen der Aufnahmelust zu stoßen. Für den Kurzfilm aber, so Heinrich, ´steht keine allgemeingültige Zeitgrenze fest´ (28): “Kurz liegt zwischen winzig ... und lang ... mehr gegen klein hin” (52).

Tatsächlich haben die internationalen Kurzfilmfestivals ganz unterschiedliche Längendefinitionen: 60 Minuten gelten bei der jährlich erstellten Kurzfilmliste der Filmbewertungsgesellschaft Wiesbaden als Zeitobergrenze, interfilm Berlin liebt es nicht länger als 20 Minuten, Oskar-Nominiertes darf nicht länger als 30 Minuten sein. - Zwei Drittel der in Deutschland produzierten Kurzfilme sind im Übrigen kürzer als 15 Minuten (Wolf in: Dittgen, 2001, 14). Heinrich rechnet Filme mit einer Länge von 30 bis 60 Minuten bereits der eigenen Gattung des ´mittellangen Films´ zu, der ´aufgrund seiner Dauer schon wieder eigene Möglichkeiten der narrativen und dramaturgischen Form hat´ (28). 10 Minuten sind als Kino-Vorfilm die äußerste Grenze, doch als TV-Lückenfüller gerade recht, und Heinrich präferiert 15 Minuten, um ´gewährleistet zu sehen, daß die Auswirkungen der Kürze von Filmen auf ihre narrativen und dramaturgischen Strukturen deutlich erkennbar sind´ (29). Es scheint als Merkmal des Kurzfilms zu gelten: Je kürzer, desto wertvoller. Dabei kann aber weder eine ´Dauer des Kurzen´ noch ein ´Länge des Optimalen´ eingeklagt werden. Hauptsache die Struktur der Erzählung folgt den groben Wesensmerkmalen des Kurzfilms.

Ohnehin ist das Wesen von Kürze oder Länge schwer zu definieren und subjektiv geprägt - Filme kommen einem kürzer vor, wenn sie ´packen´, bzw. länger und allzu lange, wenn´s nicht packt. Es ist ein Verdienst Heinrichs, beispielsweise die Kürze eines Kurzfilms der Erzählzeit des Films gegenüberzustellen und dies mit dem Langfilm zu vergleichen - ganz allgemein sollte ihre Studie eine Bereicherung für Kurzfilmschaffende sein. Hinsichtlich ´innerer Erzählkürze´ und ´äußerer Kürze´ (der Dauer) fragt Heinrichs nach der Wichtigkeit der Kürze für die Charakterisierung der Kurzformen (54ff). Es gibt die Länge eines Films und es gibt die Länge der Erzählung: “Unter der inneren Kürze einer Narration versteht man die Auswirkungen, die die formgebende, äußere Kürze auf die Darstellung bzw. die Umsetzung einer Narration in der Erzählzeit hat” (54). Die innere Kürze operiert mit Reduktion, Komplexitätssteigerung und Intensivierung.

“Die Überlegung, daß zehn Minuten Film auch einer zehnminütigen Geschichte entsprechen können, liegt näher, als der Gedanke, daß zwei Stunden Film auch zwei Stunden Geschichte entsprechen, denn ein Spannungsbogen ist kaum über diesen Zeitraum hinweg aufrechtzuerhalten” (77). Ein Kurzfilm also kann weitaus leichter im Medium der Zeitauthentizität verbleiben als der Langfilm. Somit kann er auch dem Wahrnehmungsrhythmus des Zuschauers identisch sein. Demgegenüber tendiert der Langfilm theoretisch gen Familiensaga - es gibt freilich auch Kurzfilme, die ein ganzes Leben (sogar ohne Schnitt!) in zwölf Minuten erfolgreich zum Abspann führen. Umgekehrt ist auch beim Langfilm verstärkt die Verwendung der narrativen Kurzformen zu beobachten (vgl. 154).

 

Programmierte Erzählungen

 

Die Kürze erfordert eine gänzlich andere Betrachtereinstellung als der Langfilm. Schon ein langer Vorspann ist dem Kurzfilm abträglich, denn die Erwartung ist, schnell zur Sache zu kommen. Auch durch die Prägnanz der Erzählung hat der Kurze mehr mit Werbung und Clip gemein als mit dem Langfilm. Werden Kurzfilme aber nicht in Sendelücken und in Kinos nur eingestreut, sondern als Reihen geboten, bietet sich eine neue Dimension der Sprache. Die Cannes-Rolle beispielsweise ist eine Kurzfilm-Hardcore-Attacke für Story- und Ästhetikfreaks. Sie läßt nicht eintauchen in ´einen´ Film, sondern erfordert immer aufs neue die ´ergänzende´ Anteilnahme des Zuschauers. Er merkt sich seine Highlights, er will immer aufs neue gefordert werden.

Ähnlich verhält es sich mit Kurzfilmprogrammen. Sie sind Paraden von Erzählungen, die sowohl als Ganzes als auch durch die Parts attraktiv sind - bereits ´zwei Kurzfilme hintereinander und man hat einen kleinen Krieg´ (vgl. Kothenschulte 18). Thematische Kurzfilmprogramme in der Länge eines Langfilms wollen freilich dasselbe wie der Langfilm: Wirkung. Einerseits ergibt sie sich aus der Vielfalt des Themas, andererseits durch die Einzelwerke, die wiederum ganz persönlich präferiert werden. Der ´Krieg´ ist ein Aufeinanderprallen von Erzählungen, Stimmungen, Genres und Plots. Während der Langfilm den Zuschauer durch eine homogene Gänze fesselt, bannt ein Kurzfilmprogramm durch die Fülle seiner Einheiten. Sie sind in ihrer Singularität wuchtig und summa summarum in ihrer Aussage einem Langfilm gleich. Eine Reihe von ´Wuchtigkeiten´ nun ergibt eine Länge, die dem Langfilm gleichkommt, nur daß die Struktur die der Zerstückelung ist. Die Filme sind gereiht und mögen als Einzelwerke nichts miteinander zu tun haben, doch sind sie thematisch aufeinander abgestimmt und in ihrer Abfolge künstlerisch komponiert: Kurzfilmprogramme leben von Sprüngen der Genres (Animation versus Spielfilm versus Experimentelles versus Dokumentation) und von Sprüngen der Subthemen.

Ist also die narrative Dichte ein Merkmal des Kurzfilms, so potenziert sich die Dichte in einem Kurzfilmprogramm exponentiell: der Betrachter wird sowohl wahrnehmungstechnisch als auch inhaltlich wie ästhetisch herausgefordert. Er hat einen Parcour der Vielfalt zu bestehen. Selbst wenn er den einen oder anderen Film nicht mag, bekommt er alle 3 drei bis 15 Minuten eine neue Chance. Er kann immer aufs Neue beginnen und befindet sich in einem Wechselbad der Eindrücke, das er summa summarum in der Zeit eines Langfilms erfährt, das aber die Struktur eines Langfilms bei weitem übersteigt: Die Geschichten und Genres sind zu vielfältig als daß nur das ´Eine´ des Themas bliebe. Die Mosaike und Bruchstücke der Einzelfilme ergeben in der Gesamtheit einen themaübersteigenden Eindruck. So stringent das Thema sein mag, der Zuschauer wird das Thema plus Vielfalt zu verarbeiten haben.

Um diesbezüglich auf ´Schindlers Liste´ zurückzukommen: Thematische Kurzfilmprogramme mögen ein ´themepark´ sein, doch sind sie kein ´fungarden´, da ihre Aneinanderreihungen tendenziell anstrengend sind. Das zudem Anspruchsvolle liegt in der Tatsache, daß sie nicht so leicht zu rezipieren sind wie ein Langfilm, in dem man der einen Erzählung wegen gewissermaßen sicher sitzt, sondern daß sie eine Offenheit für Zerstückelung und also einer geistigen Herausforderung bedürfen. Es wird einem nichts abgenommen. Während ´Schindler´ homogen und chronologisch das Verderben zeigt, würde ein Kurzfilmprogramm zum selben Thema fragmentarische Aspekte liefern und viel ´verwirrender´ vorgehen (müssen): Auch ohne Überlänge böte das Programm - allein durch die mögliche Genre-Vielfalt - Aspekte zum Thema, die rein ästhetisch eine ´just one story-Linearität´ übersteigt.

Daniel Kothenschulte sagt, “die Kunst des Festivalkurators muss darin bestehen, nicht Fülle, sondern Freiräume zu kreieren; Kontexte, in denen die aus den unterschiedlichen Produktionszusammenhängen stammenden Einzelwerke wirken können” (18). Die Gesamtheit eines Programms also pendelt zwischen den Extremgefahren Überforderung und Beliebigkeit. Das Optimum liegt dazwischen. Ein Kriegs-Programm mit ausschließlich apokalyptischen Werken mag das Thema zwar nicht verfehlen, doch die Zuschauer überfordern und folglich weder dem Thema noch dem Anliegen gerecht werden: “Freiraum” meint, daß 1. der Zuschauer nicht erschlagen wird (durch welches Thema auch immer), daß er 2. Gelegenheit hat, selbst die Subthemen des Themas weiterzuphantasieren - vor Ort im Cinema und post-Cinema in der Erinnerung, und daß 3. der “Kontext” und die hintergründige Absicht angenommen wird. “Freiraum” hat mit der mit Poesie zu tun, die im Langfilm der einen Erzählung inhärent ist. In Kurzfilmprogrammen ist der ´Freiraum´ an die Möglichkeit gekoppelt, Vielfalt zusammenzubringen und unter dem Label des Themas zu transzendieren, also die Einzelfilme in der Reihe der Filme auch einzeln zu schätzen. Dabei dürfen die Filme nicht gegeneinander ausgespielt werden. Der ´Krieg´ der Zusammenstellung sollte nicht auf Kosten der Zuschauer ausgetragen werden, da er sich ja den ´Kriegen´ der Inhalte widmen soll. Das heißt, daß Feingespür vonnöten ist, Kurzfilmprogramme zum Abspann - den es als möglichen Moment des Bedenkens gar nicht gibt - zu bringen.

 

Media in Motion

 

Die Einbettung des Kurzfilms (als Vor- oder Zwischenfilm) ist vielfältiger als beim Langfilm und die ´Kommunikation´ mit anderen Kurzfilmen kann katalysatorisch wirken und höchst spannend sein. Er ist, seiner Kürze wegen äußerst flexibel einsetzbar. In den verschiedensten Medien, Veranstaltungen, Festivals und Screenings machen Kurzfilmmacher Karriere. Ob Open Air, U-Bahn, Internet, Party, Bahn, Fluglinien, Clip-Channels, Handys oder Leinwand- und Monitoranbieter jeglicher Art, das kurz auf den Punkt Gebrachte erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Im Fernsehen hat er Sonderrubriken und wird zwar bisweilen ohne Erwähnung in Programmzeitschriften gewissermaßen ´unsichtbar´ eingestreut. Doch selbst der todgesagte Vorfilm im Kino taucht wieder auf.

Vor allem der Bereich New Media wertet den Kurzfilm insgesamt auf. Es ist die Kürze, die gefeiert wird, verbunden mit der Möglichkeit, in einem Werbeumfeld zu unterhalten. Kurzfilme haben hohen Lifestylewert. Stichwort ´Content´: Kurzfilme sind die derzeitige Lösung für das Format- und Inhaltsproblem der Neuen Medien. Sie kommen den knappen Speicherresourcen entgegen und  dem Bedürfnis nach dem ´schnellen Blick´ des Surfens und Zappens. Die Clip-Struktur von Kurzfilmprogrammen bedient das jugendlich-urbane Bedürfnis nach Reizanstrengung, die zuvörderst in den Neuen Medien eingelöst, doch auch anderweitig erwartet wird.

Praktisch am Kurzfilm ist seine multivariable Verwendung. Er wird als Medium für Marketingtest genutzt, er ist die erste Filmform in Breitbandmedien und dient technischen Innovatoren als Zusatzpaket - schnell ist um ein paar Kurzfilme ein Wettbewerb organisiert. Im gesamten öffentlichen Raum scheint es ein Bedürfnis nach Kurzweil zu geben. Neben der weltweiten Festivalpopularität steht er ein für die Vorwegnahme der aktuellen Trends zu special interest-Kanälen und programmatischen Besonderheiten.

Es ist auffallend, daß dem Begriff ´neu´ der Begriff ´jung´ korrespondiert. Von den allein in Deutschland jährlich entstehenden etwa 1000 Kurzfilmen, werden zwar nur ein Drittel der Filme an Filmhochschulen produziert (Wolf in: Dittgen, 2001, 14), die restlichen freien Filmemacher und Produzenten aber sind in der Regel nicht minder jung. Ob dollarschwere Kulissenschinken oder grottenschriller Trash, der Kurzfilm ist seit jeher ein junges Medium, er ist ein Probemedium für angehende Profis. Zwar gibt es auch Kurzfilmveteranen, das Durchschnittsalter bei Festivaleinreichungen aber dürfte bei unter 30 Jahren liegen. Die Jugend also kommt dem Neuen des New Media - siehe Flash - ganz automatisch entgegen. Es dürfte auch kein Zufall sein, daß sich viele Kurzfilme den Themen Kindheit und Jugend widmen.

Die für den Kurzfilm typische Erzähldichte wird zudem den dynamischen Moden und Lifestyles gerecht. Matthias Wörther schätzt den Kurzfilm als ´Impulsmedium, Gesprächsanreger und emotionalen Einstieg in kontroverse Diskussionen´ ein (54) und Dietrich Leder hält ihn für ´ein Feld der kreativen Auseinandersetzungen´(50). Es dürfte nicht verwundern, daß ´der Kurzfilm den Konventionen des Langfilms und wahrscheinlich auch dem Publikumsgeschmack oft einen Schritt voraus ist´ (Heinrich 12). Kurzfilme bringen Zeitstimmungen auf den Punkt, sie bedienen populäre Dramaturgien noch effektvoller als die Langfilme und stehen für den Reiz des Neuen (vgl. Kothenschulte 17): Im Gegensatz zum Langfilm der 90-Minuten-Terrine folgt der Kurzfilm der von Konstantin Wecker für das ´Wort´ zugeschriebenen Losung, derzufolge er ´eine Faust sein muß, kein Zeigefinger: Zuschlagen, Treffen´ (vgl. 116).

 

Carl Heise (Pseudonym)

 

Literatur:

 

Katrin Heinrich, 1998, “Der Kurzfilm. Geschichte, Gattungen, Narrativik”, Coppi-Verlag, Alfeld / Leine, 164 S.

 

Daniel Kothenschulte, 2001, “Der Nachtisch als Menü”, in: Filmdienst 9 - Thema Kurzfilm, Köln, S. 17 - 19

 

Dietrich Leder, 2001, “Ein Hauch von Parfüm - Segmente der Verwertungskette: Hochschulen und Internet”, in: Filmdienst 9 - Thema Kurzfilm, Köln, S. 48 - 50

 

Claus Löser, 2001, ”Viele Filme, wenig Leinwand” in: Filmdienst 9 - Thema Kurzfilm, Köln, S. 12 - 14

 

Wolfgang Luley, 2001, “Think Short - Die lang(anhaltend)e Wirkung der kurzen Formen”, in: Filmdienst 9 - Thema Kurzfilm, Köln, S. 50f

 

Konstantin Wecker, 1978, “Das Wort”, in: Ich will noch eine ganze Menge leben. Songs, Gedichte, Prosa, München, S. 116

 

Reinhard W. Wolf in: Dittgen, Andrea, “Kurzfilm-Expertise”, in: Filmdienst 9 - Thema Kurzfilm, 2001, S.14

 

Matthias Wörther, 2001, “Leben in der Schachtel - der Kurzfilm in der Bildungsarbeit”, in: Filmdienst 9 - Thema Kurzfilm, Köln, S. 54