Kalkutta Mainstreet Desaster

 

Rezensiert 2008 für Indien-Magazin

 

In einer Seitenstraße ein Fliegender Händler neben Obstverkäufern, die am Boden sitzen. Vom Brunnen her Wasserrinnsale. Kinder spielen, Müllmänner schieben Karren, Hunde sausen umher und an der Hauptstraße drohen uns bereits wieder Menschenmassen zu erdrücken. Wir sind in Kalkutta: In einem Bildband über die Pracht indischer Architektur, die unter Britischem Einfluss im 19. Jahrhundert entstand.

Jeder Quadratmeter Stadt ist mit Leben erfüllt. Mal hausen Familien auf dem Dach, mal werden noch unter einer stickigen Brücke Mangos verkauft. Jedes Bild erzählt dutzend Geschichten gleichzeitig. Calcutta Chitpur Road Neighborhoods konzentriert sich auf die Bauten eines nördlichen Bezirks der Stadt, in dem es überdurchschnittlich viele ehemalige Fabrikantenvillen gibt, die in bombastischer Mogularchitektur dem Monumentalklassizismus frönen. Doch die Bausubstanz gibt nach, Balustraden verwittern, und die Paläste mit Freitreppen, Säulen, Innenhöfen und Stuck werden von der aggressiven Enge der Stadt eingekeilt. Indem die Kameras eine sensible Distanz zu den Palästen einnehmen, ziehen sie die gesamte Umgebung mit ein und zeigen die alltägliche Üppigkeit der indischen Urbanität. Es gibt zigtausend kolonialer Herrschaftsgebäude im Land, die in ähnlich ruinösem Zustand sind. Bisweilen ist die altehrwürdige Bausubstanz im Bretterverhau der sie umgebenden Nachbarschaften kaum auszumachen. Kaum eine Nische in den Gebäuden ist unbewohnt.

21 Bremer Studenten der Fotografie hatten sich aufgemacht, die denkmalschutzverdächtigen Gebäude zu dokumentieren. Auf 140 Seiten wiegt der Katalog die opulente Pracht auf, und wer die Ausstellung im Berliner Willy-Brandt-Haus oder im Frankfurter Deutschen Architekturmuseum verpasst hat, möge im Mai zu CIMA nach Kalkutta reisen: Im Großformat wirken die Werke wie brueghelsche Schlachten, in denen noch das Aufwirbeln des Staubes Spannung erzeugt. Durch die Regie des Betreuers und renommierten Fotografen Peter Bialobrzeski siegt das Licht über die Zeit: Die lange Blende lässt Bewegungen bisweilen verwischen, doch die Kerosinlampen auf Märkten und Einkaufsstraßen umso kraftvoller erstrahlen. Das fotografische Konzept ist stringent weit im Blick.

Die Fresken der Villen wirken so alt wie die ältesten Tempel des Landes, doch erfahren als brachiale Sakralbauten kaum Ehre. Der Inder hat keine Leidenschaft für Restaurierung und Erhalt. Er hat weder das Bedürfnis, ranzige Fassaden zu übertünchen noch den Müll von den Vordächern zu fegen. Man lebt bescheiden und frei von ästhetischen Normen. Wenn etwas einzukrachen droht, schaut man zu, bis es kracht. Nur Tempel erfahren Leidenschaft und Engagement. Im bröckelnden Grau der Stadt stechen sie wie Edelsteine hervor.

Die Gebäudeklunker dagegen sind Altlasten und der Reparatur eines Chaishops nicht vorzuziehen. Im Ergebnis zeugen die Panoramen der Stadt vom Niedergang einer zivilisieren Welt: Obwohl 1300 Häuser Kalkuttas als Denkmäler geführt werden, verfallen sie und kaum jemand weiß es zu verhindern. Bäume wuchern zwischen den Säulen, Lianen verschlingen Balkone, Wurzeln sprengen die Ornamentik. Auf eigentümliche Weise gehen Dschungel und Urbanität gemeinsam gegen die Gemäuer los.

Um eine konsequent einheitliche Visualität zu erzielen, wurde ausschließlich frühmorgens und zur Abenddämmerung fotografiert. In fünf Gruppen brachen die Studenten täglich mit schwerem Equipement in alten Ambassadors auf. Jeder Gruppe war je eine Gegend an der Chitpur Road zugewiesen. Die großen Leitern konnten für eine geringe Miete bei Familien vor Ort zwischengelagert werden. Tagsüber wurden die Standorte der Shots eruiert, Perspektiven von Balkonen und Dächern gesichert und Testfotos gemacht, um die Aufnahmen auf dem teuerem Fotomaterial kostengünstig vorhersehen zu können. Da gabs schon mal Streit, da jeder Fotograf andere Herangehensweisen vorschlug. Die Herausforderung des Kollektiven aber erwies sich als optimal, das Stadtportrait in einer individualitätsübergreifenden Sprache zu realisieren.

Die Anwesenheit der Studenten in den Straßen war eine Attraktion. ´Die ollen Buden wollt Ihr aufnehmen´ war eine Reaktion, ´warum filmt Ihr nicht Downtown, wo das Moderne und Neue vorherrscht´? Geschmeichelt war man dann doch durchaus. Es war hilfreich, dass jeder Gruppe ein local guide zur Seite stand, der übersetzte, im Weg stehende Autos umparken ließ und Bewohner und Passanten ermahnte - ´no foto!´, sich nicht allzu dominant zu platzieren. Dann, das Licht war perfekt jetzt, die Assistenten versuchten in Torschlusspanik Herr des wuselnden Arrangements zu sein, und ´klick´, nach drei bis fünf Aufnahmen war alles vorbei.

In die Wirren einer unbekannten Stadt gestoßen, hatten die jungen Leute durchaus zu kämpfen. Die Bilder belegen: Wenn Indien den kleinen Finger - der historischen Gebäude - zeigt, frisst es dich ganz: Enge, Smog, Krach und Elend sind kulturschockfördernde Unumgänglichkeiten. Eine Studentin sah erstmals einen Toten. Er lag auf dem Bürgersteig. In Tempeln erlebte man religiöse Ekstasen, und im Teastall entwickelten sich lebensphilosophische Unterhaltungen, wie sie zu Hause undenkbar sind. Einige ereilte der Dünnschiss, niemand aber fiel mehr als ein paar Tage aus. Als ein Meer von Doppelbelichtungen beschreibt die Studentin Tine Casper die zu bewältigende Realität. Zwischen Verfall und Prunk, Leid und Ewigkeit galt es jeden Moment, die paradoxen Gegebenheiten durch intensive Geistesgegenwart zu bestehen. 

Rabindranath Tagore verkehrte einst in den Salons der ´bengalischen Renaissance´, Ravi Shankar gab Konzerte. Die Erbauer der Gebäude hatten in kurzer Zeit großen Reichtum angehäuft, die Nachfahren haben ihn in kurzer Zeit verloren. Die Blütezeit Kalkuttas endete abrupt, als die Briten 1912 die Hauptstadt nach Delhi verlegten. Die einstigen Herren sind längst von dannen, heute wohnen Reiche in den Villen. Und Halbreiche und Nichtreiche. Der Erhalt eines Gebäudes ist meist nicht bezahlbar. Die wenigen Familien, die die Substanz intakt halten konnten, leben trotz modriger Wände in geradezu erlauchtem Gründerzeitambiente mit Kronleuchtern und Intarsienschränken. „In jeder anderen Stadt der Welt wäre es etwas Besonderes, sein Büro in einem Gebäude wie Tagore Castle zu haben. Bei uns lagern sie Alteisen und Stoffe ein“, zitiert Florian Hanig im lesenswerten Katalog. Mit dem Niedergang der Gebäude droht auch die Epoche der bourgeoisen Etikette und die für Kalkutta typische Intellektualität zu versiegen.

Dem indischen Selbstverständnis zufolge darf alles werden, alles Gewordene darf aber auch vergehen. Der westliche Beobachter, der gewohnt ist, jeden halbwegs alten Kuhstall als Museum zu erhalten, kann noch durch den Bildband sowohl Läuterung als auch Stressabbau erfahren: In Hinnahme des Verfalls muss er die Vergangenheit nicht auf Ewig verlängert wissen. Die Manifestation von Materie ist relativ und der Abgang des Veralteten macht Platz für feierliche Wiedergeburten.

Doch unabhängig vom Lernen in der Fremde gilt die Mahnung im Katalog: ´Wenn wir Chitpur verlieren, verlieren wir unsere Geschichte´. Umso wichtiger, dass eine Truppe von Enthusiasten die architektonischen Perlen katalogisiert festhielt. Die Ausblicke von Balkonen und Dächern und die Einblicke in Privatgemächer huldigen zum einen der immensen Kraft der auf spontane Flickschusterei konzentrierten indischen Überlebenskunst. Zum anderen ermahnen sie die Instanzen des Weltkulturerbes um ihre Verantwortung der Errettung einer Stadt.

 

 

Matthias Groll

 

Calcutta Chitpur Road  Neighborhoods: Hrsg. Peter Bialobrzeski, Hatje Cantz Verlag 2007. 144 Seiten, 74 farbige Abb., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-7757-2106-6

 

Projektwebseite: http://www.chitporeroad.com

 

Ausstellung:

- Willy Brand Haus Berlin: Dez. 2007

- Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main: 8.2.–24.3.2008 

- CIMA, Kalkutta: Mai/Juni 2008