Essay

 

Der Multiblick

Die Kurzmedien entlarven die Trägheit des Gewohnheits-TV

 

 

Bilder hatten lange keinen guten Ruf. Martin Luther mißtraute der bildlichen Darstellung Gottes, er rief auf zum Bildersturm und bewirkte, daß noch heute ein schlechtes Gewissen verspürt, wer allzu intensiv Bilder konsumiert. Ihnen haftet die Anrüchigkeit des Voyeurismus an. Texte dagegen gelten bis heute als die edle Form der Informationsaufnahme. Nichtsdestotrotz hat sich auch die frühchristliche Bilderverehrung bis heute erhalten. Voller Muse wandeln wir durch die heiligen Hallen der Museen und erfreuen uns epochenübergreifender, bildlicher Inszenierungen. ´Bildung´ hat ihren Ursprung denn auch im ´Bild´, das Weltbilder ´einbilden´ läßt.

 

Praktisch am Bild ist seine unmittelbare Ansichtigkeit. Texte müssen umständlich imaginiert werden, Bilder dagegen adelt das Gütesiegel der Authentizität. Sie gewähren ´freie Sicht´, sie konservieren die Welt in optischer Klarheit und kommen dem modernen Anspruch entgegen, auf zeitaufwendiges Denken und auf metaphysische Zusätze verzichten zu können. Das Bild zielt ganz einfach direkt ins Auge.

 

Doch ist das Bild längst nicht mehr, was es einmal war. Die mediale Bilderflut verkehrte Luthers Anliegen des Bildersturms ins Gegenteil: die Bilder selbst wurden zum Sturm. Das Motto ´zuviel ist nicht genug´ ließ Bilder die Haushalte erstürmen, Bilder verzieren städtische Räume, Bilder werden in Bildbände gekippt und wer flüchtend zum Text greift, wird von bildlicher Werbung nicht immer verschont. Angesichts der Bilderrealität ist die sogenannte Realität immer schwieriger zu erkennen. Bilder verstellen den Blick, anstatt ihn zu erweitern.

 

Vom statischen Bild der Ikone war es über die Fotografie ein weiter Weg hin zum Filmbild. Angesichts der Überfülle an Bildrealität müßte es paradox erscheinen, daß nun auch noch die hypertextuellen und multibildlichen Neuen Medien boomen. Der Bild-Schirm vermittelt Bilder, Texte und Informatorisches heute überbildlich, er ist längst zur Heimat geworden - und zur Herausforderung des visuell Erlebbaren.

 

Und das gute alte Fernsehen? Die gute alte  ´Glotze´? Man mag ´fern sehen´, dieser Vorgang aber ist im Gegensatz zu den neuen Medien überaus körperfern und passiv. Vor allem zeichnet sich das Fernsehen durch quantitative Aufblähung aus. Noch immer wird der Zuschauer auf allen Kanälen immer aufs Neue mit mehr oder weniger demselben geflutet. Die Spielfilm- und Unterhaltungskost vervielfältigt sich, die Dynamik der Bildentwicklung selbst aber bleibt außen vor: Nach wie vor dominieren die ´großen Erzählungen´. Thriller, Serien, Fernsehspiele und das Illusions- und ´Realitätskino´ bieten Erholung vor der Unübersichtlichkeit des Alltags. Inhalt und Sinn bleiben übersichtlich verpackt und logisch gereiht im ´Ertragbaren´ des Seh- und Sagbaren.

 

Ganz anders die Datennetz-Ekstasen, die Kurzfilm-Attacken und der Junge Film der Techno-Schocks: Statt Sinnpflege herrscht Sinnzerstückelung. Der Cut weicht dem Inhalt, der Klon der Essenz. Statt Sinn dominieren Sinnspiel, Sinnesreizung und Besinnungslosigkeit. Demgegenüber stehen die ´großen Erzählungen´ wie Saurier im Medienumbruch.

 

Beim ´Normalfernsehen´ sind die Sinne alles andere als überanstrengt. Man übergibt sich der sicheren Gemächlichkeit der Erzählungen. Nicht einmal Krimis muntern zu sinniger Anteilnahme auf, da der Täter ohnehin überführt werden wird. Ein Fernsehabend kann ohne Gehirnschaden-Risiko bis Sendeschluß überstanden werden. Bereits das Überqueren einer Straße erfordert mehr Geistesgegenwart als einige Stunden Normal-TV: Fernsehen unterfordert den Betrachter wahrnehmungstechnisch bei weitem.

 

Doch wem langweilig wird, der greift ohnehin zur Fernbedienung. Er zerschneidet die Logik der Stories und macht Bildmix ultra. Die ´Mattscheibe´ wird zur hyperbildlichen Spielwiese: Abzappen ist die Devise - die Sinnganzheit wird zerzappt, der inhaltliche Zusammenhang zerhackstückt. In der urbanen Welt des globalen Dorfes scheint einerseits das Bedürfnis nach Reizanstrengung zu steigen, andererseits wird der sich überlagernde, flexible Umgang mit Ungleichzeitigkeiten zur Orientierungstaktik. Die Dauererregung bedarf keines Happy Ends.

 

Hintergrund dieser Notwehr wider den Wahrnehmungs-Konsens ist, daß sich jeder selbst genug Sinn stiftet, sich selbst Inhalt genug ist. Der Betrachter sitzt sicher im Sattel der selbstbestimmten Weltwahrnehmung und erkennt, daß ihn der Geschichten produzierende Medienzirkus nur mit hüpsch verpackten Sinnplacebos abfüttert. Der moralische Zeigefinger des Großkinos provoziert den Stinkefinger: Schluß mit der - in der Infoflut ohnehin ´wegerklärten´ - Welterklärung, jetzt bin ich selbst der Regisseur und finde meine Ruhe, indem ich den Bilderfluß zum Gemetzel steigere.

 

Wider das ´Wahrnehmungsgesetz´, demzufolge Spielfilme eineinhalb Stunden dauern, bis alle thematischen Verstrickungen über Höhepunkte und Durststrecken zum Abspann geführt werden, hält es der auf Rasanz getrimmte ´Seher´ mit Norbert Meissner. Der schnitt den Klassiker ´Zwölf Uhr Mittag´ auf satte zwei Minuten zusammen. Im Zeitraffer jagt er den Zuschauer durch den Film, mit dem Ergebnis, daß er zwar nicht mehr die schmachtende Spannung des Westerns durchleidet, dafür aber vor allem das sieht, was er im Original leicht übersieht: Schnitte, nichts als Schnitte. Dem Zuschauer wird schwindelig angesichts des Bombardements der Cuts. Süchtig nach derart optischem Suff besucht der Homo Opticus zur intellektuellen Erbauung Kurzkunstfestivals und -events, er geht dreiviertel-intellektuell online, zappt schlappintellektuell weiter oder wird - in jungen Jahren - zum vielleicht-dann-später-Intellektuellen Abhängigen von MTV. Ob da oder dort, der Genießer und Handelnde erlebt die Vision des ´video - ich sehe´ als ästhetischen und sogar politischen Anspruch eingelöst.

 

Was die Videokunst in ihrem Randdasein nicht durchsetzen konnte, erreichen die Neuen Medien und die ´Shorts´, die Kurzfilme mit einer Erzähldichte von nur wenigen Minuten als Nebeneffekt: Sie entlarven den müden Blick des Normal-fern-Sehers - und kurieren ihn. Zappen und Surfen sind sowohl Konsum- und Erlebnisstrategien als auch gesundheitsfördernde Verteidigungstaktiken. Die Ästhetik des Kurzen wird durch den ´Multiblick´ auf paradoxe und emergente Weise überboten. Mit fiebrigem Blick klickt sich der Sinn-Surfer durch den Bilderpool. In ihm hat die virtuelle Renaissance der Aufklärung keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Angesichts der Echtzeitbedingungen hat der ´Reisende´ noch im Bereich der Nanosekunden Punktsiege zu erzielen.

 

Doch halt: Mit Bildbeschleunigung und Blickmontage ist die Wahrnehmungsschlacht noch keineswegs gewonnen. Die optischen Steigerungsraten fordern ein Selbstverständnis, das einst der Videokunst eigen war: Der Kämpfer an der Medienfront entdeckt sich selbst. Aktiv will er werden, der Betrachter will seinen Körper erspüren, denn im ´Tanz der Bilder´ ist er der Tänzer. Was sich Interaktivität und Filmzusammenstellung nennt, ist ein körperlicher Zwischenfall im Vermittlungs- und Kabelsalat. Er fordert den Multiblick als ein bewußtes Experiment im Selbstversuch. Reflektierte Verwirrung ´bildet´ dann mehr als die Klarheit der klugen Dauer-Stories.

 

Sei es Befremden, Freude, Technorausch oder tränenschwere Poesie, die verwirrende Ungenauigkeit der Kurz-Medien lädt ein zu sinnestaktischer Anteilnahme. Die ´Botschaften´ wollen am eigenen Leib erst erarbeitet, erlebt und erlitten werden, sollen sie ihren wie auch immer geklonten Sinn entfalten. Der komplexe, persönliche Erfahrungsraum wird zum wagnerischen Orchestergraben, in dem die Sinne schwitzend musizieren, um dem Bühnengeschehen einerseits beizukommen, es aber andererseits selbst wahrnehmungstaktisch voranzutreiben. Kurzkunst will Wahrnehmung in (e-)motion.

 

Und dann: Das Furioso der Informationen, Geschichten und Bilder formiert sich katastrophisch zur Ekstase. Alle Bilder, Filme und brechen gleichzeitig hervor, das Rauschen wird zur metaphorischen Krönung von Bildung und Geschichte. Und dem Betrachter verdrehen sich verzückt die Augen: Er ist dankbar, in vorübergehender Blindheit die Bildinformationstotale zu überstehen. Das Ende der Bilder ist ein Gesamtbild, das alles gleichzeitig und gleichzeitig nichts zeigt. Danach herrscht Stille, und der von den Bildern befreite Blick hat die Bildung eingelöst, die ihm das hoheitliche Nachrichten- und Geschichtenniveau vorenthielt. Bildung 200X will Wahrnehmung ultra. Erst nach der Bildapokalypse hat der Betrachter einen klaren Kopf.

 

Und all der liebgewonnene Inhalt, all der weise Sinn der narrativen Gewohnheit? Verschwunden im horror vacui, der Leere der implodierten Inhaltlichkeit. Die Sinne wollen sich weder mit langen Geschichten herumlangweilen, noch wollen sie an Bild- und Informationsverstopfung zugrundegehen. Sie wollen zur Besinnung kommen, so paradox es klingt: durch Besinnungslosigkeit zur Besinnung kommen. Ob durch die ´Waffe´ der Fernbedienung oder durch das ´ultra´ der kurzen Medien, der Betrachter legt fortan selbst Hand an, er switcht sich entweder lustvoll in Ohnmacht, indem er seine eigenen surrealen ´kurz-Geschichten´ kreiert, er verpaßt sich eine Dosis Video- und Kurzkunst oder surft sich online oder ROMline ins Jenseits der Vernunft - um zur Vernuft zu kommen.

 

Zur Besinnung kommen die armen Seelen nicht, solange sie die beschleunigten Bildfluten nur brav konsumieren. Der medialen Zirkulation zu entkommen heißt, deren Absurdität in sinnestaktischer Eigenarbeit zu steigern. Die Turbo-Taste der Wahrnehmung will auf Dauer gedrückt sein und dabei absurd, doch egozentrisch und gezielt subversiert werden. Im Sturm der Bilder stehend, müßte Luther heute einen Wirbelsturm der Bilderdurchdringung beschwören.

 

Erst im Jenseits der Bilder ist das ´wahre´ Leben: Erst im bewußt genossenem Overkill, dies spürt der clevere Zeitgenosse, wird er in der Bilder-Bildung - und bei sich selbst - ankommen. Ob Kurzfilm oder Videoclip, ob Videokunst oder Experimentelles, das Kurze ist der Herzschrittmacher der Visual-Survival-Society. Ob Kurzfilmprogramme, Chats oder Party-Stunts, der Kick des Knappen betrifft. Er ist von politischer Relevanz, denn es geht ums Überleben in visueller Kompetenz.

 

Matthias Groll